Inside Tokyo #10

18.10.2001 

Fuji-san - der Gipfel des Sommers
 
Wer kennt nicht das typische Japanphoto: Ein Shinkansen rast am Fuße des kegelförmigen Berges, dessen Gipfel noch schneebedeckt ist, vorbei. In Deutschland wird nun jeder an den Namen Fujiyama denken, und da möchte gleich etwas zur Aufklärung beitragen: Denn richtig muss es heißen "Fuji-san", was nur mit einem Übersetzungsfehler zu erklären ist. Zwar hat grundsätzlich jedes japanische Schriftzeichen zwei Aussprachen, man sagt Lesungen, eine japanische und eine sino-japanische, die aus dem chinesischen Ursprung abgeleitet ist. So hat das Zeichen für Berg die beiden Lesungen "yama" und "san". Wenn Schriftzeichen einzeln stehen, wir meistens die japanische Lesung verwendet, das Wort "Berg" heißt also im Japanischen "Yama". Wird das Schriftzeichen jedoch in Kombination mit weiteren Zeichen, z.B. einem Namen benutzt, so verwendet man die (meist kürzere) sino-japanische Lesung und genau so ist es auch im Falle von "Fuji-san".

Japaner sagen, einmal im Leben muss man auf den Fuji steigen, wer es zweimal tut, ist verrückt. So haben auch wir diese Aufgabe in Angriff genommen, denn nur im Juli und August ist Saison und die ganze Berglogistik ist auf diese zwei Monate zugeschnitten. Und getreu meiner Maxime Japan so erleben zu wollen, wie es die Japaner selbst eben auch tun, waren schnell Fujibegeisterte gefunden, allen voran mein Mitbewohner Shu und Freund Björn, die ihn auch noch nicht bestiegen hatte. Shu brachte noch zwei Freunde mit, so dass wir zu fünft das Ziel in Angriff nahmen, aber der Reihe nach.

Zunächst mussten wir uns um den entsprechenden Bus kümmern, denn der Fuji-san liegt ca. 100km südwestlich von Tokyo. Natürlich kann man da auch mit der Bahn hinfahren, aber für die touristischen Besteiger gibt es einen Busservice, der zeitlich genau richtig abgestimmt um 19.30 ab Shinjuku losfährt. Die Fujibesteigung erfolgt nämlich über Nacht, mit dem Ziel kurz vor dem Sonnenaufgang am Gipfel anzukommen, um diesen dann voll geniessen zu können. Wenn der Bus um 21.55 am Fuji ankommt, hat man ca. 6 Stunden Zeit für den Aufstieg, da die Sonne um ungefähr 4 Uhr aufgeht.

Also schnell den Bus reserviert, an besagtem Freitag Abend bei gut 30 Grad in Tokyo die Handschuhe und Winterjacke eingepackt, 2,5 Liter Flüssigkeit und viele leckere Snacks, deutsche Schokolade und weitere Köstlichkeiten eingepackt um dann zum Busbahnhof in Shinjuku zu eilen. Dort herrschte eher die Stimmung wie vor einem Fußballspiel, es warteten viele Leute, die alle recht aufgeregt, meist aber noch in kurzen Hosen warteten. Wie sich schnell herausstellte, kam auch nicht nur ein Bus, schlussendlich waren es acht Busse von Fuji Express, die uns auch auf die Minute genau um 21.55 Uhr am Fuji absetzten. Na ja, irgendwo mussten die 400.000 Leute, die jährlich den Fuji besteigen auch herkommen. Da es sich um einen Freitagabend handelte waren vermutlich um die 10.000 Leute unterwegs den Gipfel zu erstürmen - da muss eben alles organisiert sein.

Da der Fuji ein nahezu perfekter Kegel ist, gibt es von allen Richtungen aus Wege zum Gipfel, die Menge verteilt sich also, denn auch aus Richtung Nagoya, das auf der gegenüberliegenden Seite des Fuji liegt kommen viele Leute. Der Aufstieg ist jeweils in insgesamt 10 Stationen aufgeteilt, die so ungefähr 300 Höhenmeter auseinanderliegen, bis man den Gipfel in 3776m Höhe erreicht. Für den nächtlichen Aufstieg brachte uns der Bus schon bis zur Gogome, also bis zur fünften Station, unser Ausgangspunkt liegt damit bereits auf 2305m über dem Meer. Diese Station gleicht auch mehr einem gigantischen Busbahnhof denn einer lieblichen Berghütte, sahen wir doch auf dem Rückweg zahllose Reisebusse auf dem nicht enden wollenden Parkplatz.

Nun gingen wir erst mal schnell ins Basislager, bzw. den entsprechenden Devotionalienhandel um uns mit dem noch fehlenden Einzudecken. Ich hielt einen Stock für sinnvoll und habe mir dann auch gleich ein Exemplar mit japanischer Flagge und endsprechender Aufschrift zugelegt. Basispreis 1200 Yen (ca. 24 DM).

Nicht nur meine japanischen Kollegen setzten mehr auf lebenswichtig erscheinende Utensilien und erstanden für 1000 Yen (ca. 20 DM) Sauerstoff in der Sprühdose. Ob das wirklich nötig würde wagte ich zu bezweifeln, aber der Absatz lief prächtig, immer getreu dem Motto: "Wenn schon Bergsteigen, dann richtig" und schließlich ist der Fuji ja auch Japans höchster Berg.

Nach dem letzten Toilettenanstehen nahmen wir noch schnell ein Gruppenphoto und spurteten um 22.15 los, immer etwas ungläubig auf die Uhr schauend, ob wir den ganzen Aufstieg auch schnell genug schaffen würden.

Auf dem Weg zur sechsten Station passierten wir noch das Mt. Fuji Safetyp Guidance Center, wo uns gleich ein englischsprachiger Zettel mit Instruktionen in die Hand gedrückt wurde. Der Weg war noch sehr breit und recht angenehm zu laufen und wir konnten unsere Taschenlampen testen. Genauer gesagt handelte es sich um Kopflampen, damit man die Hände frei hat. Den eigentlich Berg konnten wir nur erahnen, denn Straßenlaternen gibt es trotz allen Tourismus noch nicht. Allerdings war eine muntere Lichterkette zu sehen, die sich geheimnisvoll nach oben schlängelte. So gegen 23 Uhr bei der sechsten Station gab es für mich dann die erste Brandmarke für meinen Holzstock, was ich mir mehr als internes Benchmarking vorgenommen hatte, kostete doch jede Markierung erneut 200 Yen (ca. 4 DM).

Bloß keine Zeit verlierend liefen wir schnurstracks weiter, immer noch im T-Shirt und mit Handtuch um den Hals, schließlich wollten wir die 60 Minuten bis zur siebten Station ja auch einhalten. Der Grund veränderte schon einwenig sein Material, es wurde wesentlich vulkanischer, also sehr porös und rötliches Gestein, das aber auch sehr weich scheint. Langsam zogen sich die Gruppen auseinander und wir gönnten uns schließlich um 0 Uhr auch eine kleine Pause bei der siebten Station, wo ich wieder eine Brandmarke einsammeln konnte. Meine Mannschaft schnaufte schon ganz schön, die ersten Trinkvorräte wurden geplündert, das Lächeln war inzwischen einem etwas verzweifelten Blick gewichen, hatten wir doch noch nicht mal die Hälfte erreicht und noch wesentlich steilere 1000 Höhenmeter vor uns.

Wir merkten kaum wie es langsam kühler wurden, so rann uns der Schweiß über den Körper. Das Tempo hatte nun einem regelmäßigen Trotten erreicht, immer wieder sah man am Wegesrand, der nun aus längeren Stufen bestand, Leute halt machen und eine Dosis Sauerstoff tanken. Ob das wirklich helfen würde....

Ich habe es nicht ausprobiert, fühlte mich überraschenderweise recht frisch, obwohl ich ja mit Bergsteigen eigentlich nichts am Hut habe. Auch hatte ich außer einem Joggen in der Woche zuvor kein weiteres Training genossen. Auf dem Weg zur achten Station gab es viele Hütten, die immer halb in den Berg hineingebaut sind. Dort kann man auch übernachten oder Pausieren, nur ist es nicht gerade still und auch nicht billig. Überhaupt nehmen die Preise mit der Höhe zu, wie man z.B. anhand von Snickers beobachten kann, das nun schon 200 Yen (ca. 4 DM) kostete, was dem doppelten Ladenpreis entspricht. Als ich an der achten Station als erster an kam hatte ich ausgiebig Gelegenheit die anderen Bergsteiger zu beobachten: Alle waren höchst professionell ausgerüstet, da war ich mit meinen Jeans, Shirt und Turnschuhen regelrecht "underdressed". Insgesamt glich der Aufstieg in mancherlei Hinsicht auch einem Wettlauf der Outdoorausrüster, so schien es zumindest. Sobald wieder eine Stufe erklommen war, griffen viele erst mal wieder zum Handy, um der Kommunikation entsprechend nachzukommen. Bemerkenswert ist übrigens, dass wohl nur NTT DoCoMo (der größte und erfolgreichste japanische Anbieter) anständig am Fuji-san funktioniert, wir sahen mit unseren preisbewussten Handys jedenfalls in die Röhre, was auch den Kontakt zu den noch fehlenden Gruppenmitgliedern erschwerte. Nach knapp einer halben Stunde beschlossen wir zu dritt weiterzugehen, um nicht zu spät zum Sonnenaufgang zu kommen. Shu-san und Anne-san trafen wir erst nach dem Abstieg am nächsten Morgen wieder.

Der Weg wurde nun enger, steiniger und vor allem voller. So saßen denn am Rand fast überall Leute, die sich ausruhten und teilweise auch schliefen, waren doch die meisten direkt von der Arbeit an den Berg gefahren. Nach der achten Station auf 3360m passierten wir auch ein, zwei Torii, die japanischen Tore, die meist an spirituellen Orten und Shrinen aufgestellt sind. Das Tempo wurde nun weniger durch die nachlassenden Kräfte, als vielmehr durch den Vordermann begrenzt. Genau richtig, wir standen im "Stau". Der gesamte Gänsemarsch war zum Stehen gekommen. Ich verstand aber nicht so ganz warum, denn mit etwas Vorsicht hätte man durchaus an der Schlange vorbeilaufen können, was ich dann auch gelegentlich gemacht habe. Anfang noch von einem leicht schlechten Gewissen geplagt, ich würde damit den Konsens am Berg gefährden, wurde ich doch einige hundert Meter weiter bestätigt. Dort standen an den Wendepunkten des Serpentinenweges nun Mitarbeiter des Fuji (oder soll ich sagen Bergführer?), die laut riefen, teilweise sogar mit Megaphon. Zu Beginn dachte ich, sie würden damit verlorene Gruppenmitglieder suchen, denn auch für den Fuji kann man natürlich Pauschalreisen buchen. Bei genauerem Hinhören verstand ich dann doch was sie sagten, denn alle paar Meter sagten sie das Gleiche: "Bitte nicht auf dem Weg stehen bleiben. Wenn Sie ruhen möchten, setzen Sie sich bitte an den Rand. Bitte lassen Sie die Rechte Spur zum Überholen frei!" Na das klang doch wirklich gut, und ich nutzte die Chance auch gleich und stürmte an Hunderten vorbei, schließlich war es schon drei Uhr morgens.

Wenig später wurde der steinige Weg zu einer richtigen Treppe, die wieder durch ein Torii hindurchführte und wenig später hatte ich es auch schon geschafft.

Die Strapaze hatte ein vorläufiges Ende, ich war am Gipfel, nach rund 5 Stunden. 3:30 Uhr holte ich mir den letzten Stempel für meinen Stock, der nun über 20 Markierungen hatte. Der Gipfelstempel wurde in rot eingeprägt und von einem Shrineangestellten des Gipfelshrines angebracht, was doch etwas feierliches hatte.

Noch war es relativ leer auf dem Gipfel, ich hatte also genug Zeit mich umzusehen und besetzte dann auf einer Steinmauer schöne Plätze, die freien Blick auf den Sonnenaufgang garantierten. Nach und nach kamen immer mehr Leute, auch meine beiden Mitstreiter waren bald dabei. Da die Temperatur auf fünf Grad abgesackt waren und die Anstrengung nun nachließ zogen wir alles an, was wir bei uns hatten und frohren trotzdem - schließlich war es ja noch dunkel. Hinter uns füllte sich langsam das Plateau an der Kraterkante an, erstaunlicherweise waren neben sehr vielen Alten Menschen auch sehr viele Mädchen dabei, die wir eher auf dem Laufsteg als auf dem Gipfel vermutet hätten.

So gegen halb fünf begann dann der Sonnenaufgang, den wir glücklicherweise auch sehen konnten. Das Wetter war nämlich recht bewölkt und wir hatten immer Angst, dass es zu Regnen beginnen würde, aber zum Sonnenaufgang schien alles perfekt. So begann wieder ein Hochpunkt für die japanische Photoindustrie, denn überall wurde aus vollen Filmen und Digitalchips geknipst. Als dann wirklich die Sonne sichtbar wurde begann ein unisones "Ohhhhhhh" und die Leute begannen wieder zu Lächeln. Dies war wirklich ein ganz besonderer Augenblick nach der Strapaze. Auch wurde es sofort merklich wärmer und nach einem kurzen Innehalten nahm die Geschäftigkeit wieder ihren Lauf. Meine Companions zogen es vor eine Suppe einzunehmen und in einer der Hütten zu ruhen, während ich den Gipfelchampagner aus dem Rucksack zog - meine letzte Getränkereserve für einen besonderen Augenblick.

Auch wenn meine Füße etwas abgenutzt erschienen machte ich mich dennoch auf den Weg um den Krater. Dabei sah ich, wie viele verschiedene Farben und schichten das vulkanische Gestein am Gipfel hatte. Das ist natürlich auf den Photos wesentlich besser zu sehen. Auf der Gegenüberliegenden Kraterseite gibt es sogar ein Postamt, natürlich das höchstliegendste Japans, und so machte ich mich auch gleich ans Schreiben, obwohl ich natürlich keinerlei Adressen dabei hatte, so dass ich nur einige Wenige und meine Nachbarn im selben Haus beglücken konnte.

Um sieben Uhr begannen wir dann auch schon wieder mit dem Abstieg, der ein etwas andere Route nahm. Das Wetter hatte sich nun zugezogen, es war neblig und nieselte leicht, so dass wir immer nur bis zur nächsten Serpentine des zickzackartigen Weges sahen. Tatsächlich waren es wohl zwanzig mal hin und her, mir kam es aber wie tausend vor. Der Weg war wesentlich breiter und flacher als der Aufstieg, der Boden bestand aus lauter roten Kügelchen, man schlidderte also mehr

wie durch eine Hydrokultur. Im Regen erreichten wir dann total erschöpft um die Mittagszeit wieder die fünfte Station, wo unsere zwei Mitstreiter vom Vorabend schon ganz frisch auf uns warteten. Unser Bus fuhr dann auch pünktlich um 12:30 wieder gen Tokyo das wir dann um 15 Uhr erreichten.

Im Anschluss an ein ausgiebiges Bad bin ich schließlich halbtot ins Bett gefallen und litte noch die nächsten Tage an einem gigantischen Muskelkater.

Bei alle dem dachte ich mir dann: Einmal und nie wieder.

 
Hier gibt es die Bilder zur Geschichte.

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