Inside Tokyo #3

09.10.2000 

Andere Alltäglichkeiten
 
Seit 25.09. gehen wir also regelmäßig zu Schule, so dass sich unsere normalen Erlebnisse nun alltäglich wiederholen und der Neuheitseffekt nicht mehr ganz hinter jeder Ecke auf uns lauert. In der Schule werden wir also weiterhin entsprechend gedrillt, inzwischen noch um ein paar Details ergänzt.

In unserer 4. Stunde, der Schreibstunde lernen wir nun täglich 4-7 Kanji, also die komplizierteren, aus dem Chinesischen übernommenen Schriftzeichen. Diese sollen wir dann auch in den entsprechenden Diktaten schreiben, allerdings müssen wir die Aussprache noch daneben schreiben, was dann doch leicht stressig wird. Am Ende jeder Woche machen wir einen "Weekly Test", bei dem wir auf Fragen unserer Lehrerin die Antwort niederschreiben. Letzten Mittwoch haben wir dann unseren ersten richtigen Test geschrieben, der schon auf 90 Minuten ausgelegt war. Wir waren zwar fast alle schon nach 30 Minuten fertig, aber fehlerfrei haben dir den Test dennoch alle nicht geschafft. Der Lückentext mit den fehlenden Partikeln hatte es in sich und meine "Lieblingsaufgabe" war natürlich auch dabei: Die Antwort steht da und wir sollen die Frage formulieren, aber eben ganz genau die, die auch in der entsprechenden Lektion neu eingeführt wurde, nicht irgend eine andere, die ebenfalls zum Ergebnis führen würde. Nach der Schule bin ich aufgrund der erhöhten Konzentration meistens sehr müde und versuche möglichst schnell meinen Mittagsschlaf zu genießen. Danach mache ich nachmittags inzwischen doch mehrere Stunden Hausaufgaben und ziehe mir die Kassetten zur Verbesserung des Hörverständnisses rein. Am Rande angemerkt sei, dass ich hier vom 3.Oktober nur im Frühstücksfernsehen einen Bericht über Deutschland und ein Interview mit Hans-Dietrich Genscher mitbekommen habe.

Am 26.10. hatten wir unseren ersten offiziellen Gruppentermin, es stand der Besuch bei der Deutschen Industrie- und Handelskammer in Japan an. Schon morgens in der Schule saßen wir also in Anzug und Krawatte, schwitzten uns einen ab und waren froh, am Nachmittag im angenehm gekühlten Gebäude der DIHK zu weilen. Dort stellte uns Herr Dr. Menkhaus (Leiter der Rechtsabteilung) die Aktivitäten der DIHK anhand einiger Folien vor - recht interessant, aber eben eine deutsche Präsentation, weshalb ich das hier nicht weiter vertiefen möchte.

Der lustige Part schloss sich ganz unverhofft an, als wir spontan von Jürgen Schmid, einem ehemaligen SP Stipendiaten, im selben Haus zur Firma SKW Trostberg eingeladen wurden. Herr Schmid, ein echter Bayer, der schon seit 13 Jahren mit Japan in Kontakt steht berichtete über die SKW Trostberg Aktivitäten und kam schnurstracks zu seinem Lieblingsthema: Dem Salzverkauf in Japan. Dort verkauft SKW das in Deutschland unter dem Namen Bad Reichenhaller Markensalz bekannte Produkt unter dem Namen Alpensalz. Der Absatz ist reißend, handelt es sich doch um ein hochwertiges deutsche Produkt mit bayrischem Alpencharme. Schnell stellten wir fest, dass der steigende Absatz wohl hauptsächlich am Verkäufer lag: Herr Schmid war so eloquent, das seine Kollegen meinten, die Japaner hätten keine andere Wahl, als das Salz zu kaufen, nur um ihn wieder loszuwerden. Dies zeigte sich dann auch, als er Frau Takeda, die anfangs keine Probepackung genommen hatte gleich dazu überredete, zwei Packungen zu nehmen - natürlich in fließendem Japanisch. Bleibt noch zu erwähnen, dass die kleine Packung im Supermarkt nebenan umgerechnet nur DM 10,- kostet.

Soviel vom Tagesgeschehen, nun zu den anderen Alltäglichkeiten. Heute möchte ich einen Überblick über den Verkehr in Tokyo geben, insbesondere den Personennahverkehr. Dabei fallen einige Berufsbilder auf, die in Deutschland gar nicht vorhanden - oder doch zumindest gänzlich unterentwickelt sind.

Wie schon das letzte Mal erwähnt habe ich ja nun ein Kickboard, welches ich auch regelmäßig benutze, besonders um zur nächsten Haltestelle zu rollern. Dort klappe ich das Ding einfach zusammen und hänge es mir mit dem Tragegurt über die Schulter, was übrigens auch gut im Anzug funktioniert. Dennoch ersetzt das Kickboard natürlich nicht die diversen Bahnen. Hier in Tokyo gibt es nämlich gleich mehrere Firmen, die den Nahverkehr besorgen, so gibt es ein komplettes Ubahnsystem, das auch mit einheitlichen Fahrscheinen zu benutzen ist. Manche Gebiete werden aber von eigenen Gesellschaften bewirtschaftet, die dann auch immer eigene Fahrscheine verlangen. Zwar funktioniert das immer nach dem selben Prinzip, aber dennoch muss man eben zweimal bezahlen, was bei Fahrpreisen zwischen 3 und 5 DM natürlich keinen Spaß macht. Um die Innenstadt herum, oder besser mitten durch die verschiedenen Zentren von Tokyo (Shibuya, Shinjuku, Ginza, Ueno,...) fährt die JR (steht für Japan Rail) Yamanote Line im Kreis. Für eine Umrundung braucht man genau 62 Minuten. Von meiner Station Shinjuku aus fahren aber auch noch die Bahngesellschaften Keio Line und Odakyu Line ab, ferner gibt es noch die Tokyu Line und häufig entdeckt man ganz unvermutet immer wieder neue Bahnlinien, wie z.B. eine straßenbahnähnliche Linie unweit von mir, bei der schon fast deutsche Kleinbahnromantik aufkommt, wenn die Gleise in engen Schneisen zwischen den Wohnhäusern verlaufen. Auch bei den Busgesellschaften ist es ähnlich, am Freitag wollten wir mit dem Bus zur Schule fahren, hatte an der Zielhaltestellen die 11 (!) Linien aufgeschrieben, die dort vorbeifahren und dann eine uns nahe Haltestelle aufgesucht. Dort stiegen wir erhobenen Hauptes in die Linie 5 ein und glaubten nun direkt bis zur Schule fahren zu können. Doch Pustekuchen, es war offensichtlich die Linie 5 einer anderen Gesellschaft, die nur bis zum Bahnhof Shinjuku fuhr und nicht weiter. So stiegen wir in einen Bus einer weiteren Gesellschaft und fuhren weiter.

Am Busbahnhof Shinjuku konnten wir aber eine interessante Beobachtung machen. Am Bussteig nebenan hatte sich ein Obdachloser mit Kartons niedergelassen, der sich aber irgendwie nicht regte. Schon war ein Krankenwagen zur Stelle, die drei "Besatzungsmitglieder" alle in grauem Uniform-Overall und natürlich mit Helm (!) stellten die Bahre auf, entfalteten mit ihren weißen Handschuhen eine Plastikplane, die sie auf der Bahre ausbreiteten, um den wohl doch etwas schmutzigen Obdachlosen darauf zu legen. Kaum hatten Sie ihn darauf gelegt und wollten ihn einladen, erhob er sich und begab sich wieder zu seinem Karton. Ganz verwundert konnten wir aus dem abfahrenden Bus noch sehen, wie die Krankenwagenmannschaft die Plane wieder zusammenfaltete, die Bahre einlud und unverrichteter Dinge davon fuhr.

Zurück zu unseren Zugfahrten. Allmorgendlich benutzen wir die JR Yamanote Line, laufen entgegen dem Strom von Menschen in den Bahnhof, ziehen am Automaten ein Ticket und passieren die Systemschranke (vergleichbar dem Pariser Ubahnsystem). Nicht unerwähnt bleiben soll dabei, dass der Fahrkartenautomat nach Einwurf des Geldes die möglichen Streckentickets anzeigt und man dann den vorher ermittelten Betrag für das entsprechende Ziel auswählt. Aber dann: Unten kommt das Ticket und das Wechselgeld aus der Maschine und im selben Moment erscheint auf dem Monitor das Zeichentrickbild einer Verkäuferin, die sich umgehend verneigt und bedankt.

Am richtigen Bahnsteig angekommen gehen wir auf der linken Seite die Treppe hoch (Links ausweichen und rechts überholen sind übrigens beim Rollern lebenswichtige Grundregeln - seien sie auch noch so ungewohnt) bis zum Bahnsteig. Dieser ist für deutsche Maßstäbe aber schon völlig überfüllt, stehen doch alle 5 Meter bereits wohlgeordnete Schlangen, vor denen dann auch der ankommende Zug jeweils seine Türen öffnet. Doch noch ist es nicht soweit. Der Lautsprecher kündigt einen ankommenden Zug an. Dadurch, dass die Züge normalerweise im Dreiminutentakt fahren, im Berufsverkehr so eng wie technisch irgend möglich, kommt der Lautsprecher aber eigentlich nie zur Ruhe. Direkt an der Bahnsteigkante steht bei fast jeder Schlange ein Herr in königsblauem Anzug, mit Dienstmütze und natürlich mit weißen Handschuhen. Insgesamt also eine ganze Hundertschaft auf dem Bahnsteig. Ich nenne seine Tätigkeit mal Haltestellensteward, denn nach der Durchsage: "Denscha ga mairimas! (Zug fährt ein)" beginnen die Warnlampen entlang der Bahnsteigkante zu blinken und der Haltestellensteward weist mit ausgestreckten Armen nochmals darauf hin, vergleichbar einer Stewardess, die den Weg zum Notausgang zeigt, während das Sicherheitsvideo im Flugzeug läuft.

Vor uns ist nun ein absolut voller Zug eingefahren, der sich aber zum Glück in Shinjuku zu weiten Teilen entleert, bevor er sich wieder vollständig füllt. Kaum sind die Türen offen, kommt meine Lieblingsansage: eine hohe, sonore Frauenstimme sagt: "Shinjuku, Shinjuku des. (muss ich wohl nicht übersetzen)". Dann steigen alle ein - halt es steigen gar nicht alle ein, häufig bleiben schon wieder Fahrgäste auf dem Bahnsteig stehen, die auf den nächsten Zug warten, so stand neulich doch tatsächlich mein Mitbewohner Shuu einen Meter neben mir, ich noch (oder schon) im Zug, er in der ersten Reihe der Wartenden, was für ein Zufall. Das Gegenteil markierte ein älterer Herr, der wenig gruppenkonform sich mit dem Rücken in den vollen Zug drängte, zugegeben, er war schlank genug (oder atmete auch noch aus) so dass sich die Tür noch schließen lies. Gelegentlich helfen die Stewards mit den weißen Handschuhen auch etwas nach. Richtig dreist wurde es aber, als er eine Haltestelle weiter auf der anderen Zugseite schon wieder aussteigen wollte und dies durch kräftigen Armeinsatz auch schaffte, obwohl diese Haltestelle nur von wenigen benutzt wird. Bei diesem Herrn war von japanischer Rücksicht nichts zu spüren, war doch seine eigene Zielerreichung hochgradig gefährdet durch die vielen im Weg Stehenden.

Aber gerade an dieser Haltestelle, ich meine Harajuku können wir jeden Morgen den "Bahnsteigmoderator" erleben. Ein ebenfalls uniformierter Steward begleitet den ganzen (natürlich doch recht kurzen) Stop des Zuges mit ununterbrochenen Ansagen in sein schnurloses Mikrophon, das er aber so professionell wie ein Popstar führt.

Ach ja, beinahe hätte ich es vergessen, vor Abfahrt des Zuges ertönt natürlich noch eine nette Melodie, die nichts, aber auch gar nichts mit dem Gong deutscher Bahnhöfe gemein hat. Im Gegenteil, mir will einfach nicht der Gedanke aus dem Kopf, dass es hier vielleicht doch einen "Bahnhofsorganisten" gibt, klingt die nette Melodie doch so, wie die kurzen Musikstücke, die man gelegentlich in den Kaufhausabteilungen für Elektroorgeln hört.

So stehen wir 10 Minuten im Zug, dich gedrängt wie in einer Sardinenbüchse und noch unerfahren im japanischen Halbschlaf. Um uns herum scheinen nämlich alle Japaner zu schlafen oder zumindest zu düsen. Anyway, Shibuya kann man gar nicht verpassen, drängen einen dort doch die ganzen Masse automatisch zur Tür heraus in ein Meer von schwarzhaarigen Menschen. Zielsicher peile ich den richtigen Ausgang an und ordne mich ruhig in die lange Schlange vor der Treppe ein. Jeden Tag will ich mich darüber aufregen, dass es so voll ist und muss doch anerkennend feststellen, dass die Ganze Menge in Bewegung bleibt, es gibt nur eine psychologische Wartezeit vor der Treppe. In Wirklichkeit fließen die Massen wie in einem perfekt organisierten Ameisenstaat die Treppe hinunter und zu den diversen Ausgängen, schließlich kommt in drei Minuten der nächste Zug - "Tokyo is fast!".

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