Inside Tokyo #5

13.11.2000 

Die Japaner und ihre Freizeit (I)
 
I. Meine letzten Wochen:

Wie schon in im vorletzten Bericht beschrieben gehe ich jeden Tag zur Schule und lerne Japanisch. Inzwischen haben wir Lektion 25 erreicht, das erste Vokabel- und Grammatikbuch haben wir hinter uns gelassen und dürfen den Kopf wieder täglich mit gut 50 Vokabeln, ca. 6 Schriftzeichen und jeder Menge Grammatik füllen.

Mir persönlich bereiten die Vokabeln die größten Probleme, ist es doch häufig gar nicht einfach, eine neue grammatikalische Form zu erkennen und einzuüben, wenn man noch gar nicht alle Wörter versteht. Die Kanji (Schriftzeichen) mag ich dagegen lieber, allerdings liegen die Schwierigkeiten hier wieder anders. Zu jedem Zeichen muss man sich mind. eine Bedeutung merken, dann aber noch zwei Aussprachen mit den entsprechenden Hiragana-Schreibweisen. Da sind 6 Zeichen pro Tag gar nicht so wenig, will man die schon gelernten nicht gleich wieder vergessen. Zwar machen wir täglich ein Diktat, aber für den kontinuierlichen Lernerfolg gibt es nur eins: Üben, Üben, Üben. Von der Grammatik her können wir inzwischen theoretisch schon recht viel ausdrücken, doch fällt es im normalen Gespräch schwer so schnell die entsprechenden Konstruktionen parat zu haben. Der Unterschied zwischen aktivem und passivem Wissen ist leider nicht gerade klein.

Inzwischen haben wir auch unser erstes Zeugnis erhalten: Noch bin ich ganz gut dabei, habe ein paar Bs und einige As. (Die Notenskala reicht von AA bis D, wobei man mindestens eine C haben muss, um den Test nicht wiederholen zu müssen) Der große Test nach Lektion 20 gestaltete sich dann auch einen Schritt aufwendiger als die kleinen alltäglichen Tests. Er dauerte zwei Tage. Am ersten Tag durfte jeder für 20 Minuten zu einem Einzelgespräch antreten, indem man z.B. seinen Heimweg beschreiben musste. Das ganze wurde auf Kassette aufgezeichnet und jeder bekam eine individuelle Fehleranalyse auf Papier. Der zweite Tag bestand aus einem Test mit Hörverstehensübungen, Diktat, Grammatiktest und einem Kanjitest. Da kommen die Köpfe schon ganz schön ins Rauchen.

Dafür ist der Ausgleich in der Freizeit umso angenehmer: Abends pflege ich das Zusammentreffen mit diversen Deutschen Gruppierungen, so z.B. der Jour Fix in der Deutschen Botschaft, der Stammtisch der Carl-Duisberg-Gesellschaft, das YounGermaNetwork, oder auch einfach nur ein gemeinsamer Abend in einer Izakaya (frei übersetzt Kneipe). Letzte Woche habe ich ein Seminar zum Thema "Setting up a business in Japan" besucht, das von einer Europäischen Institution initiiert wurde.

Allen diesen Zusammentreffen ist gemeinsam, dass man meistens einen ähnlichen Kreis wiedertrifft - so viele Deutsche gibt es hier eben nicht - und man viele Deutschland- und Deutschinteressierte Japaner kennenlernt, die teilweise ein erstaunliches Sprachniveau haben. Nicht zu vergessen ist natürlich auch, das es häufig kostenloses Bier gibt, und das ist in Tokyo immer schon eine Reise wert, ist doch alles recht teuer (ich werde darüber berichten).

Anfang November sind wir ihm Rahmen unseres Firmenbesuchsprogramms nach Shizuoka gefahren um die Firma Schindler Elevator K.K. zu besuchen. Schon die Hinfahrt mit dem Shinkansen war sehr interessant, auch wenn wir mit dem langsamsten fuhren, der an jedem Bahnhof hielt. Eine unsere Teilnehmerin (Name liegt der Redaktion vor) hatte den Zug am morgen knapp verpasst und das bei einem ganzen Tagesausflug. Nun, nach 90 Minuten Fahrt machte der Zug wieder einen Stopp und plötzlich stieg sie zu uns in den Zug - was war geschehen? Sie hatte ab Tokyo einfach einen Shinkansen später genommen, der 15 min später abfuhr, und uns aber unterwegs überholt hatte. In jedem Bahnhof, in dem wir anhielten donnerten ein bis zwei Züge an uns vorbei, alle voll besetzt - von einem Defizit der Bahn keine Spur, da kann man nur traurig auf Deutschland zurückblicken. Vor Ort unterrichtete man uns über die neuesten Entwicklungen auf dem Fahrstuhlmarkt, wir konnten im Testturm auf und abfahren und im Kreis rum Rolltreppe fahren, wenn man da nicht wieder zum Kind wird.

Am darauffolgenden Wochenende bin ich mit Elisabeth nach Nikko gefahren, einem sehr bekannten Ausflugsziel in der Nähe Tokyos (Fahrtzeit ca. 2 Stunden), das viele berühmte Tempel und natürlich wunderschöne Laubfärbungen bereithielt. Dort sind wir dann wieder im Stile "einer japanischen Reise" das vorgefertigte Programm abgefahren und haben in 4 Stunden doch irgendwie das Wichtigste gesehen. Auch wenn wir ja eigentlich als Individualtouristen dort hingefahren waren, brauchten wir doch kaum irgendwelche Karten lesen oder Pläne studieren, einfach der Menge nach zum Eingang und der Rest ergibt sich dann schon automatisch. Ich muss zugeben, dass ich jetzt doch kurz ins Nachdenken komme, empfand ich diese Gruppenkonformität doch eigentlich gar nicht negativ als ich dort war. Auf jeden Fall war Nikko sehr schön, auch wenn wir schon um 7 Uhr morgens in Tokyo weggefahren waren, was an einem Samstag natürlich keine leichte Übung ist.

Letzten Samstag war ich in ähnlicher Manier zusammen mit ein paar Freunden bei Keiko-san zu einem Barbecue eingeladen. Wir fuhren rund 90 Minuten nach Oiso ans Meer, wo Keiko-san wohnt, kauften jede Menge Leckereien ein und zelebrierten ein wundervolles BBQ - bei viel Sonnenschein und 20 Grad im Garten. Keiko-san fährt übrigens täglich diesen Weg zur Arbeit hin und auch wieder zurück! Die lange Fahrt konnten wir leider nicht mit dem üblichen Schlafen verbringen (in Japan schlafen oder dösen sonst eigentlich fast alle im Zug), denn wir hatten das "Glück" einen Gesprächssuchenden Japaner, ich will nicht sagen "Penner" neben uns zu haben, der lautstark seine Meinung über europäische Frauen in Japan und seine Schwierigkeiten damit kundtat. Er unterhielt damit den ganzen Wagen, so dass besonders die älteren Damen beschämt zum Fenster raussahen. In Japan sind ansonsten laute Gespräch im Zug gänzlich unüblich, man will ja schließlich niemanden stören. So atmeten wir alle auf, als sein Ziel erreicht war und er ausstieg. Allerdings kam er noch mehrmals in den Zug zurück, gab uns seine Adresse (für uns nicht leserlich) und verabschiedete sich. Bei Keiko-san genossen wir das inzwischen leicht herbstliche Wetter noch bei einem Spaziergang gefolgt von einem abermals leckeren Abendessen. Nachdem wir tausende von Fotos in allen erdenklichen Kombinationen gemacht hatten und das Gästebuch mit einem geistreichen Spruch geschmückt hatten, nahm ein erlebnisreicher Tag sein Ende - so schien es.

Zurück im New Sky Building war aber noch eine kleine Party meiner Mitbewohner am laufen, ja man kaufte um halb eins nachts erst mal wieder eine neue heiße Mahlzeit (!). Wir noch eine Menge Bier und versuchten für zwei Menschen den Boden für einen Beziehungsbeginn zu bereiten - erfolglos.

Damit bin ich ja schon mitten in meinem eigentlichen Thema, wollte ich doch heute etwas über das Freizeitleben der Japaner schreiben. Sicher werde ich noch viele Aspekte dieses Themas kennenlernen, eine paar Facetten möchte ich Euch aber heute mitteilen:

II. Die Japaner und ihre Freizeit (I)

Eigentlich gibt es hier alle Möglichkeiten der Freizeitgestaltung wie bei uns auch - nur noch viel mehr - und doch ist alles anders, als wir es gewöhnt sind.

Grundsätzlich kann man sagen, dass irgendwie alles etwas früher beginnt. So geht man typischerweise sonntags ins Kino, abends ist die letzte Vorstellung schon um 19.30 und der Hammer ist, dass der eigentlich perfekte Nahverkehr nur bis 12 Uhr nachts, in zentralen Bereichen bis 0.30 Uhr fährt. Das verändert so manches.

Wie schon häufiger erwähnt haben die meisten Japaner nicht gerade kurze Anfahrtswege zur Arbeit, weil sie häufig weit draußen fernab der Zentren wohnen. Aus diesem Grund geht man abends meistens direkt nach der Arbeit weg - undenkbar vorher noch nach Hause zu fahren. Eine Ausnahme bilden da die Studenten. Haben Sie Ihre Aufnahmeprüfung an die Uni mal geschafft, ist das eigentliche Studieren wohl nicht mehr ganz so stressig, so dass die viel Zeit in Cafes verbringen oder eben mit "Arbeito" bzw. "beito" (will sagen Nebenjob) sich Geld dazuverdienen. Auch kann man häufig beobachten, wie ganze Abteilungen oder zumindest viele Kollegen zusammen abends ausgehen. Die Arbeitsphase geht also in die Vergnügungsphase über, allerdings höre ich von vielen Seiten, dass die Vergnügung am Abend mit den Kollegen auch ein wesentlicher Teil des Berufslebens ist, werde doch viele informelle Dinge auch beim Glas Bier entschieden.

So sind wir also neulich in einer kleineren Gruppe aufgebrochen um an einer Salsa-Party teilzunehmen. Freitag abends um 19.30 begann eine Einführungsstunde für Salsabegeisterte, in der wir schnell lernten unsere Körper lateinamerikanisch zu bewegen. Gelegentlich mussten wir "1,8xm langen" etwas aufpassen, war die Decke doch schon bei zwei Metern Höhe. Die Location war komplett auf kubanisch/karibisch getrimmt und überall prangte das Baccardi-Logo umrandet von viel Grünzeug.

Bei der rhythmischen Musik begannen wir also in unserer noch deutschen Gruppe zu Tanzen, umringt von zahlreichen Japanerinnen und Japanern. Es dauerte gar nicht lange und wir standen im Mittelpunkt des ganzen Clubs. Man lächelte uns zu und feuerte uns an. Sofort begannen sich die Japaner auf die Tanzfläche zu begeben und tanzten ebenfalls. Hatte ich anfangs noch gedacht, die Japaner wären zurückhaltend und eher ruhig wurde ich umgehend eines besseren belehrt. Wenige Augenblicke später musste ich erkennen, dass sie alle Meistertänzer waren: Sie bewegten sich so dynamisch und rhythmisch, man hätte meinen können, sie haben alle in der Karibik Unterricht gehabt. Es herrschte eine so wundervoll positiv ausgelassene Stimmung, dass alle riesigen Spaß hatten. Alle schienen den perfekten Hüftschwung zu haben und tanzten mit einer Perfektion, die unsereinem das Fürchten lehrte - dabei dachte ich eigentlich noch ein ganz guter Tänzer zu sein. Schnell haben wir zusammen mit den Japanern getanzt und uns zugelächelt. Auch ergab sich die ein oder andere Unterhaltung, der aber nicht etwas Schüchternheit sondern eigentlich nur unsere noch unzureichenden Japanischkenntnisse entgegenstanden. Man konnte glatt vergessen, in Tokyo zu sein. Einziger Wermutstropfen war dann, dass um halb zwölf schon wieder alles dem Ende zugeht, mussten doch alle noch eine "weite Reise" nach Hause antreten nach einem anstrengenden Arbeits- und Spaßtag.

Noch lustiger war es ein paar Wochen später, als ich die Gelegenheit hatte, zu Halloween wieder in den gleichen Club zur "Brasiliennight" zu gehen. Auf dem Flyer hieß es, dass es eine Ermäßigung von 500 Yen auf den Eintrittspreis von 2000 Yen (ca. 40 DM) geben würde, wenn man kostümiert kommt. Wir hatten dem nicht soviel Bedeutung beigemessen und waren einfach so hingegangen, wie in Deutschland auch. Schnell wurden wir eines besseren belehrt, waren wir doch fast die einzigen nicht verkleideten. Die Japaner waren alle so kunstvoll und perfekt auf den Kostümwettbewerb vorbereitet, das man sie gar nicht wiedererkannte. Darunter waren Marsmenschen, Häschen und was mir persönlich mit am besten gefiel Kätzchen. Die Japanerinnen, die als Kätzchen verkleidet waren lächelten so sehr, dass von ihren Augen nur noch zwei schwarze Striche im Gesicht zu erkennen waren. Das die Stimmung wieder bombig war brauche ich ja kaum noch zu erwähnen. Sie gipfelte aber beim Kostümwettbewerb. Jeder sollte sich kurz vorstellen und seine Nummer präsentieren. Dies taten fast alle mit soviel Professionalität, dass man meinen konnte sie hätten eine langjährige Bühnenerfahrung - von Schüchternheit keine Spur. Genau so lustig war aber auch die Zuschauerseite. Viele machten Fotos bis zum Abwinken und zwei filmten das ganze mit neuester japanischer Unterhaltungselektroniktechnik, damit auch ja nicht ungesehen bleibt. Überhaupt wird hier alles und jedes fotografiert und gefilmt, aus europäischer Sicht machen die Japaner ihrem Ruf damit alle Ehre. So eine ausgelassene Gruppe habe ich schon lange nicht mehr gesehen! Leider wurde das Vergnügen auch hier wieder durch den - für europäische Verhältnisse- frühen Heimweg getrübt.

Eines Sonntags war ich gerade auf dem Heimweg von einem Besuch mit meinem Kickbord unterwegs, es begann zu dämmern (ca. 17 Uhr) und ich hörte mit einem Mal schon wieder lateinamerikanische Klänge. Durch die obigen Erlebnisse gespitzt sah ich mich um und sah eine gesperrte Strasse mit jeder Menge Polizisten. Schnell konnte ich erkennen, dass hier ein Umzug stattfinden würde. Also reihte ich mich in die Zuschauer am Straßenrand ein und wartete ab. Es handelte sich um einen Umzug à la Carneval in Rio. Zahlreiche Gruppen marschierten hinter jeweils hinter einem Auto her, das die Musikbeschallung übernahm. Jede Gruppe war in aufwendigen Kostümen verkleidet, die teilweise auch kunstvoll selber gemacht waren. Besonders viel mir dabei die bunte Farbenpracht auf, denn alles war leuchtend und glitzernd geschmückt. Beflügelt von den lateinamerikanischen Rhythmen tanzen vornehmlich die Japanerinnen ausgelassen auf der Strasse, häufig nur spärlich bekleidet wie wir es vom Carneval in Rio kennen. Halt, einen Unterschied gab es: Alle lächelten so sehr, wie man sich das nie vorher hätte vorstellen können. Leider war ich noch nicht in Rio, aber gegenüber der japanischen Perfektion dürften die Brasilianer es doch schwer haben! Nach 90 Minuten war das Spektakel vorbei, die Polizisten (fast so viele wie Tänzer) sammelten die mit Klebeband festgeklebten Warnhüte wieder ein und alles sah aus, als sei nie etwas gewesen.

Bei dem frühen Ende des abendlichen Spaßes darf man aber nicht denken, die Japaner würden auch früh ins Bett gehen. Nein, es ist nur umgekehrt als bei uns. Wenn man zu Hause angekommen ist, telefoniert man mit Freunden und emailt. So erreichte mich kürzlich samstags um 23.30 eine Einladung zum Cafe (!), zu einer Zeit also, zu der in Deutschland bestimmt am wenigsten Emails versandt werden. Auch beginne ich mich dem langsam anzupassen und telefoniere noch mit Freunden zwischen 0 und 2 Uhr - und nicht nur mit Daheimgebliebenen.

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