Inside Tokyo #8

04.05.2001 

O-hanami - oder ein Land im Ausnahmezustand
 
Mitte März lasen wir mal wieder - so eben - einen Lesetext in unserem Schulbuch, immer schön schnell, die Schulstunde ist ja gleich zu Ende. Aber halt, dieser schien ja wirklich interessant zu sein, es gibt um die Kirchblüte. Aus dem Reiseführer wusste ich ja, das sollte eine der schönsten Zeiten in Japan sein. Dem Schulbuch zufolge sollte das ganze Land diesem Ereignis entgegenfiebern. Durch die große Nord-Süd-Ausdehnung Japans würde die Kirschblüte im Süden im Laufe des Märzes beginnen, bevor sie bis Mai nach Hokkaido zieht. Alle würden sich dauernd informieren, wann es endlich losgeht - das geliebte Ereignis und damit auch der Frühlingsanfang. Aber nicht nur für Familien und Kinder sollte die Kirschblüte, oder wie man hier sagt: "Sakura" etwas besonderes bereithalten, auch die jüngsten in den Firmen sollten sich schon früh auf den Weg machen, um die schönsten Plätze für das Picknick ihrer Abteilungen zu sichern, denn sie würden alle zusammen dieses Erlebnis feiern wollen. Na ja dachte ich mir, die Texte in Schulbüchern zeichnen wieder ein Postkartenmotiv von Japan, ob das wirklich der Realität entspricht? Ich ging zur nächsten Lektion über...

Eine Woche später schon schien es loszugehen. Die Läden fingen plötzlich an, ihre Dekoration umzustellen. Wie wir uns die Weihnachtsdekoration vorstellen würden, so wurde nun alles auf Kirschblüte getrimmt, alles wurde mit künstlichen Blütenästen geschmückt, deren Pink schon von weit her zu erkennen war. Zu Anfang empfand ich das noch etwas kitschig, doch das Auge gewöhnt sich schnell an diese Farbtupfer in allen nur erdenklichen Rosavarianten. In der Werbebroschüre eines Kaufhauses wurde schon der Sakura-Sale angekündigt, ein Sonderverkauf mit allerlei rund um die Kirschblüte. Im Fernsehen begann man die Bilder der ersten Blüten zu sehen, dem Wetterbericht folgte nun immer noch der "Sakurareport" mit dem täglichen Update, wo heute wieder die Kirschen zu blühen begannen (am ehesten vergleichbar mit dem Verkehrsfunk oder dem Bericht über Schneehöhen bei uns in den Medien). Wir gingen weiterhin jeden Tag zur Schule, konnten aber auf dem Schulweg schon bemerken, wie immer neue Bäume zu blühen begannen. Zu Beginn habe ich mich noch gewundert, immer wieder neue Kirschbäume zu entdecken, aber mit der Zeit wirkte es so, als gäbe es in Japan nur Kirschbäume. Durch diese schönen Farbtupfer konnte man erst sehen, wo doch noch ein Fleckchen Natur im unendlichen Häusermeer übriggeblieben war, denn sonst fielen einem diese Stellen gar nicht so auf. Und wieder ein Blick in die Zeitung: 80 % seien es heute, ab Freitag würde die Blüte ihren Höhepunkt erreichen - besser hätte die Natur nicht Regie führen können. Alles sah nach einem bombigen Wochenende aus: es war zwar etwas kalt, doch die Sonne schien schon seit Tagen. Also verabredeten wir uns alle hitzig zum "Hanami", was soviel heißt wie "Blumen sehen", da es Kirschbäume ja in Hülle und Fülle zu geben schien war es fast egal, wo man hinging. Samstagmorgen dann erst mal die große Überraschung: Was man mir am Abend noch als den Gipfel der Schönheit präsentieren wollte, schien einzutreten. Es war kalt, sau kalt und regnete - halt - es schneite! Aber wie das in Tokyo meistens eben ist, der Schnee bleibt nicht wirklich liegen und so konnte man diesem Tag nicht mal ein schönes Fotomotiv abgewinnen, von Hanami mal ganz zu schweigen - so ein Pech!

Dafür sollten wir am Sonntag denn entschädigt werden, blauer Himmel, die Sonne schien und es war auch etwas wärmer als die letzten Tage. Das ist meine Chance dachte ich und ging nach Ueno, bekannt als der schönste Platz zur Zeit der Kirschblüte, denn dort gab es eine Allee aus Kirschbäumen. Schon als ich aus der U-Bahn ausstieg schienen alle Leute vor mir wie an einem imaginären Faden geführt den gleichen Weg zu gehen, ich brauchte also keine Karte. Nach ein paar hundert Meter hatte ich den Park erreicht und war überwältig - von der Menschenmenge die da vor mir, neben mir, hinter mir strömte. An ein genüsslich, besinnliches Kirschenschauen war gar nicht zu denken. So war denn die Mischung aus Natur- und Gesellschaftsschauspiel das eigentlich interessante. In einem Bogen verlief der Weg, an dem auf beiden Seiten Kirschbäume dich an dich standen und mit ihren blühenden Ästen eine Art Dach über den Weg zauberten. Wirklich ein wundervoller Anblick, der zu einem allgemeinen Begeisterungsgefühl führte. So schob man sich langsam den ca. 500m langen Weg entlang, zum Glück konnte ich ein wenig über die vielen Menschen hinwegschauen, um auch die Bäume zu sehen. Am Rande des Weges und unter den Bäumen waren lauter blaue Plastikplanen (auf Japanisch: Binilshiitsu - von Vinyl Sheets) ausgebreitet auf denen die Leute ausgelassen Picknick machten und feierten. Zwischen den einzelnen Planen waren teilweise Leinen gespannt, die eine Art Abtrennung darstellten, denn es gab auch noch Felder, die nur mit einem "Platzhalter" belegt zu sein schienen: mit Klebeband war auf den Planen der Firmenname markiert und ein, zwei Leute warteten auf den Rest der Gruppe. Diejenigen, die feierten hatten Essen und Alkoholika in Hülle und Fülle mitgebracht, so wurde einerseits mit Gaskochern gekocht, während an anderen Stellen die Köpfe um die Mittagszeit schon bedenklich rot waren. Zwischendurch gab es große Gestelle mit jeweils acht gigantischen Säcken, das sollten also die Mülleimer mit Mülltrennung sein, denn alles Mitgebrachte oder vor Ort gekaufte ist in Japan meist wieder und wieder verpackt - manchmal ist das Volumen der Verpackung größer als das des Inhalt. Die Stimmung jedenfalls war riesig, manche musizierten, andere spielten Theater vor, stilecht im Kimono. Sogar die Polizei hatte ein Zelt aufgeschlagen und eine extra Außenstelle eröffnet. Ich hatte wirklich das Gefühl die Nation steht Kopf, denn ruhig war es ganz und gar nicht, von jedweder Zurückhaltung wenig zu spüren. Sobald ich irgendwo stehen blieb, winkte man mir zu, ich hätte auch gleich auf nüchternen Magen mit Sake anstoßen können, aber ich wollte noch ein paar andere Plätze aufsuchen, obwohl es mir in Ueno schon so vorkam, als ob ganz Tokyo an diesem einen Fleck wäre. Im Shinjuku-Garten sah das Bild dann ganz ähnlich aus: auf ausgebreiteten Planen wurde eifrig gefeiert, teilweise wechselten sich die Blütenfarben in den Rosatönen etwas ab, je nach dem um welche Kirschsorte es sich handelte. Von Ferne sah es manchmal fast so aus, als ob Schnee auf den Ästen lag, so hell und gleichmäßig war das Blütenmeer. Wohin man auch schaute blühten die Bäume, das war ein gutes Gefühl (ii kimochi) und der Frühling kündigte sich mit aller Macht an.

Als ich am nächsten Tag meine Reise in die Kansai-Region nach Nara und Kyoto antrat fühlte ich mich während meiner Shinkansenfahrt wie in einem Sakura-express, so schnell huschten an meinem Fenster die blühenden Bäume vorbei, ein unvergesslicher Eindruck. Besonders schön war natürlich, dass mich die ganze Woche die Kirschblüte begleitete, in Nara sah ich einen riesig ausladenden Kirschbaum der sich gerade ein Gebäude einzuverleiben schien, in Kyoto konnte ich beobachten, wie hartnäckig manche Hanami-Anhänger waren, wenn sie trotz leichtem Regen die Plastikplanen abtrockneten, die Schuhe auszogen, sich hinsetzten und frierend heißen Sake zu sich nahmen. In Osaka konnte ich beobachten, wie Heerscharen von Angestellten in Anzügen nach der Arbeit zu den Kirschbäumen in Schlossnähe strömten, die Jüngeren meist mit Bierkartons (24 Dosen) bepackt, bevor sie zusammen mit ihren Kollegen feierten. Der Höhepunkt war schließlich Himeji-Castle, eine der ältesten und vor allem vollständig erhaltenen Burgen Japans, die westlich von Kobe direkt an der Shinkansenstrecke liegt. Der ganze Burggarten zwischen den verschiedenen Verteidigungslinien war mit blühenden Kirschbäumen nur so gefüllt, ein Anblick, wie in besser keine Postkarte hätte vermitteln können. Von oben sah es dann so aus, als ob lauter rosa Farbkleckse in den Garten gemalt seien.

Einen Abschluss fand die Kirschblüte nach ungefähr einer Woche, mit dem Herabfallen der Blüten. Dies haben wir dann noch mit einigen Freunden im Yoyogi-Park zum Grillen ausgenutzt um bei strahlendem Sonnenschein ebenfalls die Plastikplane auszubreiten. Besonders lustig war dann, als plötzlich alle Japaner und vor allem Japanerinnen um uns herum anfingen in höchsten Tönen zu kreischen, noch lauter und höher, als man das sonst schon gewöhnt ist. Was war passiert? In Mitten einer vollbesetzten Partygesellschaft stand ein Nackter! Er hatte wirklich alles abgelegt und fing dann auch noch an auf die Bäume zu klettern, das war natürlich ein lustiges Schauspiel, hatte doch keiner so etwas unglaubliches erwartet. Wir können nur vermuten, was die Ursache für diese Taten waren, ob der Sake zu lecker war oder ob er eine Wette verloren hatte......

Mein Schulbuch sollte recht behalten - die Zeit der Kirschblüte ist wirklich etwas besonderes in Japan und ich kann nur jedem Wünschen, seinen Japanaufenthalt in diese Zeit legen zu können.

 
Hier gibt es die Bilder zur Geschichte.

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